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Ein offener Brief an meine kleine Schwester.

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Liebes, 

so hätte ich dich nie angesprochen. Ich sage immer Stinkie oder so etwas in der Art zu dir. Aber vielleicht ist heute Liebes ganz angebracht. Du bist jetzt 18 Jahre alt und bald mit der Schule fertig. Das war ich auch mal - oder bin es, jetzt zumindest, mit der Uni. Und du sagst, du hast keine wirklich Ahnung von dem, was du danach tun sollst. 

Willkommen im Leben. Ich bin fast 25 Jahre alt und habe seit ebenso langer Zeit keine Ahnung, was ich machen soll. 


Ich hab den schwarzen Gurt im Aufschieben von wichtigen Angelegenheiten und bin Fortgeschrittene in der hohen Kunst des Verdrängens. Ich würde auch Ignoranz auf meinem XING Profil unter besondere Expertise einfügen, aber diese Option gibt es da nicht. Also steht da: Social Media Management. Weil das nicht das ist, was auch nur ansatzweise zusammenfasst, was ich alles nicht machen möchte, aber es irgendwie doch ein Anfang ist. 
Man, ich habe keine Ahnung, was ich machen soll. Also habe ich mich vom "soll" getrennt. Für mich gibt es nun mal keinen Fahrplan, die haben sich die Mädels aus der ersten Reihe in der Schule alle geschnappt, als ich an der Reihe war, waren die schon leer. Leider gibt es auch immer noch keine App, die mir im Leben zeigt, wo es lang geht, deswegen suche ich eben selbst, frage Leute nach dem richtigen Weg und bekomme nichts als schwammige Aussagen und Berufs -Eignungstests. Deswegen habe ich damals nach der Schule Praktika gemacht, Dinge ausprobiert, einfach so und manchmal auch ohne Bezahlung oder Erfolg. 
Mittlerweile habe ich den Anspruch, zu wissen, was als nächstes kommt. Die mit dem Fahrplan fürs Leben haben ihren Bachelor schon seit 2 Jahren und den Master sowieso in der Tasche. Sie suchen sich quasi einen Job aus, als sei es so leicht wie Kirschen pflücken. 
Ich habe keine Erklärung dafür, warum das bei uns nicht so ist. Aber ich habe eine Idee, was man stattdessen machen könnte: Streich das "soll" und mach einfach. Manchmal führt der schlimmste Job zur wichtigsten Bekanntschaft und das schrecklichste Praktikum zur wichtigsten Erkenntnis deines Lebens. 

Einige von uns planlosen fliegen erst mal nach Australien, der Selbstfindung wegen oder ziehen in eine größere Stadt. 


Ich hatte kein Geld für den Flug, das weißt du bestimmt. Also dann doch lieber Berlin. Ich will nicht in dieses Klischee ausarten und jedes Detail auflisten, aber an einem Ort sein, an dem es mehr Möglichkeiten gibt, sich auszuprobieren, hat mir geholfen. Auch wenn das alleine nicht reicht. Du bist nicht auf den Kopf gefallen, das weißt du. Du bist cleverer als die meisten in deinem Alter und du hängst nicht so viel auf Instagram rum, wie ich. Du hast einen wachen Blick und ein großes Herz - und auch, wenn das keiner hören will, weil es so schwammig ist: Potential. 
Jeder von uns hat ein Stück von diesem Potential zwischen Herz und Hirn - wir müssen nur auf beides hören können. Es geht nicht darum, direkt nach der Schule auf die Uni zu gehen und einen soliden 10-Jahres Plan vorweisen zu können. Wenn man das kann, verbeuge ich mich. Das ist ein wundervolles Lebensmodel, aber aus gutem Grund nicht für alle gemacht. Du bist nicht alle. 
Und vor allem bist du nicht alleine. Es gibt einen Club voller Leute wie uns, wir treffen uns jeden Tag, überall. Wir sind ganz schön viele - manchmal tun wir so, als hätten wir einen Masterplan, damit unsere Eltern sich keine Sorgen machen. Aber meistens sind wir einfach im hier und jetzt, ganz zufrieden und neugierig. Und das will ich dir mitgeben: sei neugierig und wach. Nimm alles mit, was du bekommen kannst und lerne jeden Tag dazu. Das bedarf keiner Spielregeln oder Anleitung. Ich glaube, du kannst ganz schön viel, wenn du es zulässt.

Das einzige, was ich mit 18 wusste war, dass ich noch genug Zeit habe, nichts zu wissen. 


meine kleine Schwester Laura

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