Es ist einer dieser sommerlichen Frühlingstage und ich komme gerade von der Arbeit. Ich sitze in der Bahn und fahre Heim, Richtung Kreuzberg mittlerweile. Bis vor einer Weile war noch die U9 meine Bahn und da fuhren nicht so viele Familien mit. Um mich herum sitzen nun Mütter mit Kinderwägen, sie spielen oder füttern oder beantworten jede Frage, die ihre Kinder stellen mit "Aha, ja." - Ich frage mich, ob ich auch ein mal so werde. Bis eine junge Frau die Bahn betritt.
Sie ist wahnsinnig hübsch und sieht aus wie eine Jenner , nur ohne die chirurgischen Eingriffe.
Ihre Haare sind in diese typischen Boxer-Zöpfe geflochten, die gerade alle auf Instagram präsentieren, die mindestens Brustlanges Haar haben. Ihre Shorts sind dem Wetter angemessen kurz und sie telefoniert per Headset.
Ich beobachte die Mütter um mich herum und sie starren alle wie Erdmännchen auf die junge Frau. Irgendwie ahne ich schon, was sie denken, weil sie sie panisch mustern und hastig ihre Smartphones zücken und darauf rumtippen. Am liebsten will ich ihr ein Kompliment machen, aber irgendwie traue ich mich nie, wenn es angebracht ist - ich bin einfach viel zu creepy und irgendwie seltsam und ich glaube, wenn ich in ihrer Situation wäre, merkend wie mich alle mustern, würde ich ich sofort abhauen.
Aber sie ist cool. Sie lächelt einer der jungen Mütter zu,
die sie so akribisch musterte und verlässt an der nächsten Haltestelle die Bahn. Ihre kleine Tochter fragt auch gleich "Ist die Frau deine Freundin, Mama?" - und strahlte, kindlich unwissend ihre Mutter an. Alles was danach passiert ist, verdrehte mir den Magen und ließ mich an unserer Gesellschaft zweifeln "Nein, das ist eine ganz, ganz, ganz böse Frau! Die zieht sich böse an!" Eine andere Mutter nickt ihr zu. Wow, das hat gesessen. Ich bin kurz froh, dass ich eine unvorteilhafte Culotte und kaum Make-Up trage, bis mir dieses Paradoxon klar wird. Sie sagt ihrer etwa 6jährigen Tochter, dass Shorts und Schminke "ganz ganz böse" sind. Einem jungen Mädchen, dass vermutlich alle Möglichkeiten dieser Welt hat, weil sie in Deutschland aufwachsen darf, einem Land, in dem man zwar was Feminismus einiges aufholen muss, aber Sommerbekleidung legal ist.
Und so fällt es mir wie Schuppen von den Augen: Wir Frauen sind mit Schuld
am Sexismus. Denn es ist mehr als nur Slutshaming, wir erziehen unsere Töchter mit Barbies, erlauben ihnen aber gleichzeitig keine optische Selbstbestimmtheit, denn dann könnten sie ja zu einer Bedrohung werden. Wir haben Angst vor Hotpants-tragenden Teens, aber verurteilen den Islam für seine unfairen Geschlechterrollen. Warum sind wir Menschen zu feige, um uns gegenseitig zu unterstützen? Ist es vielleicht einfach bequemer, über diejenigen zu schimpfen, die uns missfallen, als über den Tellerrand hinauszusehen?
Weil wir so erzogen wurden.
Und wir wirklich Glück haben, wenn wir ehrlichen Liberalismus mit auf den Weg bekommen haben - denn das unbequeme Denken, das füreinander Einstehen und das Absehen von der allgegenwärtigen Doppelmoral sind nicht leicht. Aber sie können uns voran bringen, wenn wir uns die Chance geben. Ich will mutiger werden, die Frauen um mich herum zu unterstützen, damit keiner mehr ausgeschlossen wird. Ich will nicht mehr meine Augen verdrehen, wenn jemand um Welten besser aussieht als ich, sondern ehrlich und aufrichtig Bewundern lernen. Ich will mehr über die Frauen um mich herum lernen. Es gibt so viel, was wir noch voneinander abgucken können und das passiert, wenn wir mit mehr Offenheit aufeinander zugehen. Be like Ilana.